In den Fotos ist Buchenwald vorweggenommen.
„Es muss ein Ende haben mit ihrer Existenz”: In Eriwan erinnert ein sensationelles Museum an den Genozid an den Armeniern
Und nun beginnt wieder das Warten, jeden Tag ein bisschen angstlicher, ein bisschen ungeduldiger. Warten auf den 25. April, den Tag danach, den Tag nach dem Tag der Erinnerung an den Genozid. Eine regelrechte „Phobie” sei diese Unruhe, sagt Hayk Demoyan, weitergegeben von Generation zu Generation, monatelang unterdruckt. Nur am 24. April bricht sie offen aus.
Hayk Demoyan ist Direktor des Genozid-Museums in Eriwan, das hoch uber der Stadt auf dem Tsitsernakaberd-Hugel in der armenischen Hauptstadt ruht. Jedes Jahr am 24. April sieht er, wie Armenier aus der ganzen Welt auf dem blanken Plateau zusammenkommen, sich sammeln unter dem bleistiftspitzen Obelisken, dieser Nadel der Hoffnung. Sieht, wie sich das Rund unter den zwolf Pylonen, die sich uber die ewige Flammen neigen – schutzend, aber auch ekstatisch, wie eine Auferstehung, ein offenes Grab –, bis zum Rand mit Blumen fullt. Staatsprasidenten kommen zum Tsitsernakaberd, pflanzen Baume in einem kleinen Hain. Putin und Reagan waren da, auch Johannes Paul II.
Seit Jahrzehnten geht das schon so, und das ist eine kleine Sensation der Sowjetgeschichte. Denn eigentlich duldete Moskau keine nationalen Gedenkfeiertage, schon gar nicht zu Volkermorden, da hatten sich womoglich noch andere zu Wort melden konnen. Aber Mitte der sechziger war das Tauwetter noch nicht ganz vorbei, hunderttausende Armenier marschierten fur das Recht auf eine eigene Geschichte, und so entstand in Eriwan das erste sowjetische Denkmal, das dem Leid eines einzigen Volkes gewidmet ist. Bis heute hat der Entwurf von Sashur Qalashyan und Artem Tarkhanyan nichts an Wucht verloren, der graue Beton, der ferne Schatten des Ararat, die Formen so klar wie der Tod: Wir standen kurz vor der Ausloschung, sagt dieses Monument, aber wir bekamen eine zweite Chance.
Gekreuzigte Kinder
In jener Fruhlingsnacht am 24. April 1915 hatte das osmanische Reich – nach der Niederlage in Gallipoli - armenische Arzte, Dichter, Musiker aus Konstantinopel verschleppen lassen, Hunderte zuerst, spater wurden Hunderttausende aus dem gesamten osmanischen Reich in die Wuste getrieben, erschlagen, ertrankt. „Sie sterben jeden Tod auf Erden, sie sterben die Tode aller Zeiten”, schrieb der deutsche Soldat Armin Theophil Wegner in einem Brief an den amerikanischen Prasidenten Woodrow Wilson. In den folgenden acht Jahren kamen eineinhalb Million Armenier um.
Das Museum, drei?ig Jahre nach dem Monument gebaut und in den Berg zu Fu?en des Obelisken gegraben, dokumentiert das Verbrechen eher sachlich. Es berechnet die Zahlen der Schulen, Kirchen, Einwohner vor und nach dem gro?en Sterben, folgt dem Lauf der Tragodie in ihrer ungeheuerlichen Dynamik aus osmanischem Nationalismus, europaischer Interessenspolitik und dem schieren Akt des Mordens. Fotos zeigen gekreuzigte Kinder, Kopfe enthaupteter Priester, aber auf einem der bedruckendsten sind gar keine Toten zu sehen, sondern verhungernde Frauen, die vor einen Pferdekadaver kauern, Kreaturen an der Grenze des Menschseins.
Man muss Franz Werfels „40 Tage des Musa Dagh” nicht gelesen haben – in diesen Fotos der Schadelberge, der Hungerleiber, der Verdursteten ist Buchenwald vorweggenommen. Die „vollstandige Vernichtung aller Armenier in der Turkei”, forderte der osmanische Innenminister Talaat im Schlusseldokument der Ausstellung: „Es muss ein Ende haben mit ihrer Existenz, wie schrecklich die notigen Ma?nahmen auch sein mogen, und weder Alter, Geschlecht noch der Wurm des Gewissens darf dabei beachtet werden.”
Die Armenier hatten dieses Beweises nicht bedurft. Fur sie ist die Tat der erste Volkermord des 20. Jahrhunderts. Fur die offizielle Turkei hingegen war es eine Verkettung unglucklicher Umstande, vielleicht habe das Verbrechen nie, ganz sicher nicht in dieser Dimension stattgefunden. Die Sache ist ein Politikum, zum Beitritthindernis fur die europa-interessierte Turkei geworden, die Katastrophe ist zum Kampfbegriff geworden.
In der Tat leistet sich das sture Armenien eine Menge Feinde fur ein solch kleines Land. Gedeihliche Beziehungen hat es vielleicht zu Georgien, sicher zu Iran, die Grenzen zu Aserbaidschan und zur Turkei sind geschlossen wegen des Zwistes um Nagorny-Karabach.
Doch auch der Druck auf die Turkei wachst – ebenso wie das Interesse. Allein in diesem Jahr habe er vier turkischen Journalisten Interviews gegeben, sagt Hayk Demoyan: „Ich habe ihnen gesagt, dass dieses Museum auch ein Teil der turkischen Geschichte ist.”
Ein Ort der Zuversicht
Demoyan kennt die turkischen Argumente, auch jene von Historikern: „Einige sagen: Ja, es war ein Genozid, aber wir konnen noch nicht daruber reden, weil die Menschen in der Turkei noch nicht bereit sind. Andere lehren an turkischen Universitaten und furchten um ihre Sicherheit, wenn sie den Genozid anerkennen. Und die Dritten sagen: Erst mussen wir eine echte Demokratie werden, dann konnen wir daruber reden. Ihr konntet uns dabei helfen.”
Der turkische Ministerprasident Recep Tayyip Erdogan habe eine gemeinsame Historikerkommission vorgeschlagen, sagt Demoyan: „Das klingt gut. Aber er will den Genozid zum Diskussionsgegenstand, debattierbar machen. Fur uns aber kommt erst die Anerkennung, danach konnen wir uber alles reden. Die Leugnung des Verbrechens bedeutet die zweite Vernichtung.” Die nationale Erfahrung des moglichen Untergangs lasst sich nicht wegverhandeln, vielleicht aber lasst sie sich heilen.
Denn Demoyan sieht sein Museum durchaus als therapeutische Anstalt, als Ort der Zuversicht, verkorpert in einem Panorama-Bild aus einem armenischen Waisenhaus: Die nachste Generation, die Uberlebenden, die Zukunft. Uberhaupt fehlt der Anlage jeder Fanatismus. Demoyan spricht englisch, russisch und franzosisch, er will sein Museum und das angeschlossene Forschungsinstitut einreihen in die anderen Einrichtungen zur Genozid-Forschung. Noch immer tauchen neue Fakten, neue Bilder auf wie jenes der Zuge mit den Deportierten, das ein Zivilarbeiter der Bagdadbahn an die Deutsche Bank schickte, oder ein Dokumentarfilm aus einem Waisenhaus, den Johannes Lepsius in Auftrag gegeben hatte.
Lepsius, der evangelische Theologe, der „Schutzengel der Armenier” (Werfel), war nicht der einzige, der um das Leben der Armenier bat. Al-Hussein Ibn Ali, der Scherif von Mekka flehte seine Glaubensbruder an, Gnade walten zu lassen, auch sein Schreiben ist auf dem Tsitsernakaberd ausgestellt. Und was ist mit den Turken, gab es auch unter den Turken Mitleid oder sogar Aufbegehren, gab es turkische Schindlers? Aber ja, sagt Demoyan: „Unendlich viele, von der hochsten Staatsebene bis zum kleinsten Untertanen. Wie hatten sonst so viele von uns uberleben konnen?”
Sonja Zekri
14, April 2008
Suddeutsche Zeitung
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